Es braucht drei Dinge für einen gute Sciene-Fiction Roman: eine glaubwürdige Charakterentwicklung, ein ausgefeiltes World-Building und einen spannenden Plot. Mit Lyneham hat der 2023 mit dem Deutschen Sciene-Fiction Preis gewürdigte Autor Nils Westerboer alle drei Kriterien mehr als erfüllt und gehört damit für mich schon jetzt zu den Favoriten für das beste SF-Buch des Jahres.
Allein mit der Wahl des Hauptcharakters und der Erzählperspektive, hebt sich das Buch von anderen ab. Wir verfolgen vor allem Henry Mildred, einem Zwölfjährigen, aus der Ich-Perspektive. Aber eben nicht nur. Denn Henry ist nahezu nie allein, sondern immer von seiner engsten Familie (Vater, kleine Schwester, großer Bruder) und später auch von gleichaltrigen Freunden und Erwachsenen umgeben. So ergibt sich quasi automatisch, dass wir nicht nur viel über Henry erfahren, sondern auch über sein soziales Umfeld. Und menschliche Emotionen hören auch auf einem weit entfernten Mond nicht plötzlich auf zu existieren. Und so spinnt sich ein wunderbar realistisches Gefüge aus Freude, Konflikt, Liebe, Angst und vielen Schichten menschlicher Empfindungen mehr, einfach nur dadurch, dass Nils Westerboer genug Menschen genug Raum in seinem Buch gegeben hat. Und das ohne, dass man als Leser:in jemals die Übersicht verliert oder Handlungsmuster nicht nachvollziehen kann. Selbst ein zweiter Erzählstrang, diesmal aus Sicht von Henrys Mutter, fügt dem sozialen Gefüge viele Facetten hinzu, ohne jemals abgedreht zu wirken. Das mit so wenigen Handgriffen, wie besagter Erzählperspektive und der Anordnung des Sozialsgefüges, hinzubekommen, ist großartiges Schreibhandwerk!
Und auch wenn das bis hier her so klingt, als wäre Leynham eines der Bücher, die man gerne als „character driven“ bezeichnet, ist das nicht der Fall. Denn wie Eingangs erwähnt gibt es ja noch zwei weitere Ebenen zu beackern, die bei auf Charakterentwicklung fixierten Büchern gerne mal zu kurz kommen: die Erschaffung einer glaubhaften Welt und die Erzählung einer spannenden Geschichte.
Und Letzeres ist es dann auch, die mich hat immer weiter lesen lassen. Denn die fremde Welt (ein Mond Namens Perm), auf der die Menschen in Lyneham landen, nachdem die Erde unbewohnbar geworden ist, bietet viele Geheimnisse, die nicht nur Familie Mildred, sondern auch wir Leser:innen unbedingt lüften möchten. Doch die Hürden sind dabei groß, denn Perm ist derart fremdartig, dass man sich erst richtig daran gewöhnen muss, seine irdische Perspektive abzulegen und in neuen Kategorien zu denken. Und wie wunderbar parallel diese Erkenntnis sowohl wir Leser:innen als auch die Charaktere im Buch erlangen, habe ich so noch selten erlebt. Das hat fast schon was Symbiotisches.
„Die Annahme, dass die Unsichtbarkeit der Perm-Tiere sie vor einem furchtbaren Feind, einem Spitzenpredator schützt, der sie in wiederkehrenden Abständen heimsucht, verrät nur etwas über uns, über den Ort, von dem wir kommen. Aber es verrät nichts über Perm.„
Doch nicht alles, was einen Lyneham nicht aus der Hand legen lässt, hat mir der fremden Welt zu tun. Auch irdische Probleme und Konflikte haben den weiten Weg von der Erde nach Perm gefunden. Denn nicht alle Charaktere haben stets das Allgemeinwohl im Sinn – oder doch? In jedem Fall bieten viele Entscheidungen von unterschiedlichsten Charakteren einigen Stoff, über den man auch nach der Lektüre noch nachdenken kann und nicht nur einmal habe ich mir die Frage gestellt: wie hätte ich mich entschieden? Das betrifft Erziehungsfragen von Vater und Mutter Mildred genau so wie große gesellschaftliche Herausforderungen auf Perm.
Und wo wir gerade von Perm sprechen: dieser Mond ist der eigentliche Star des Buches. Mit welcher Akribie Nils Westerboer hier eine interessante, neue Welt geschaffen hat, ist schlicht beeindruckend. Das empfand ich schon beim Lesen so. Aber als ich kurz darauf einen Blick auf die Website des Autors warf, auf der er uns einen Einblick in seinen leidenschaftlichen Schaffungsprozess gewährt, bin ich über das Ergebnis nicht mehr überrascht. Meine Empfehlung: erst das Buch lesen und dann die Website anschauen. Man erkennt so viele Details und Stufen des kreativen Schaffungsprozesses wieder, dass es einfach eine Freude ist.
Wegen der detailreichen Darstellung Perms in Lyneham empfehle ich übrigens insbesondere die gedruckte Ausgabe des Buches. Nicht nur, dass sie ein schönes, glänzendes Cover hat, sondern sind die in der Klappbroschur eindruckten Karten enorm hilfreich, um bei Geschichte auch geografisch die Übersicht zu bewahren. Denn sich die Namen der vielen Täler, Berge, Kämme, Meere, Spitzen usw. merken und miteinander in Beziehung setzen zu können, viel mehr mit der E-Book-Variante doch etwas schwer. Hier gibt es zwar auch die Karten, die sind technisch bedingt aber nicht so schnell griffbereit wie bei der Print-Ausgabe.
Aber ob nun Print oder E-Book: mit einem Kauf von Lyneham macht ihr, insbesondere als Hard-SF-Fans, keinesfalls etwas verkehrt!