Buch-Review: Echtzeitalter

Zugegeben: ich habe keinen Bezug zu elitären Bildungseinrichtungen, wenn auch ich einige, zu viele, Jahre Gymnasium-Luft schnuppern – nun ja – durfte. Aber nicht nur ist Wien an sich anders, sondern der Unterschied zwischen einem kleinstädtischen Gymnasium (ich) und einer Kaderschmiede wie dem im Roman beschriebenen Marianum (Protagonist Till) ist offenbar enorm. Denn es scheint, wenn ich Menschen mit Ahnung glauben darf, ein enormer, aus der Realität geschöpfter Detailreichtum ich Schachingers Schilderung der Schule zu liegen. Das macht mich traurig, denn mein Safe Haven für psychisches Wohlbefinden, die angenommen Fiktionalität, ist damit so platt gewalzt, wie ein Dorfzentrum nach Drücken der ENTF-Taste. Bis mich oben verlinkte Leute mit Ahnung eines Schlechteren belehrten, erschien mir das in Echtzeitalter beschriebene Marianum und sein Folterer Dolinar nämlich zu unmöglich, als dass eine Gesellschaft mit einem moralischen Kompass – und sei es auch nur ein schlecht kalibrierter – solche Zustände auf Dauer akzeptieren könnte.

Deshalb habe ich die Passagen aus der Hölle des Elitegymnasiums zwar als Kontrastprogramm zu Tills Computerspiel-Sessions durchaus zu schätzen gewusst, aber eben auch zu einem rein solchen degradiert. Hätte ich die Background-Geschichte von Autor Tonio Schachinger vorher gekannt, nämlich dass er selbst Schüler des „echten Marianum“ gewesen ist, hätte ich beim Lesen sicher eine anderen Zugang gehabt.

Unabhängig davon, ob und wie übertrieben die Darstellung des Elitegymnasiums nun wirklich ist, für die Entwicklung und den Überlebenskampf von Till, ist sie notwendig. Und sie tut auch dem Medium Computerspiel im Medium Buch gut. Denn in Echtzeitalter geht es nicht um Age of Empires II. Es geht darum, dass Spiele für eine Generation, die ihre Jugendjahre in den 90ern und 2000ern verbracht haben und sicher einen dieser fancy und mir dennoch unbekannten Namen wie „Generation XYZ“ tragen, zu einem Hobby und damit zum Teil ihres Alltags wurden. Und die Stärke in Echtzeitalter ist, dass dieses Hobby für Till zwar wichtig ist, aber trotzdem nicht die Story bestimmt. Das Spiel ist kein Selbstzweck, um Gaming endlich in die Elfenbeinköpfe des Literaturbetriebs zu klopfen (wer hat hier Tomorrow, and Tomorrow, and Tomorrow gesagt?), sondern es ist einfach da und wäre ohne Aufwand ersetzbar durch’s Fliegenfischen – wobei da sicher Konfliktpotential mit dem Dolinar flöten ginge.

Aus Sicht von Gamer:innen ist diese Normalisierung des Spielens am Bildschirm Balsam auf die lange geschundene Pixelseele und eine der großen Stärken des Buches.

Die zweite Stärke ist: Schachinger weiß, wovon er schreibt. Entweder er hat viel Zeit in die Recherche gesteckt oder selbst die ein oder andere Stunde in Age of Empires II versenkt. Nicht nur, werden hier professionelle Build-Orders beschrieben und Fachjargon benutzt („ich bin jetzt 1600+“ oder „vil“), sondern auch die E-Sport-Szene akurat dargestellt. Der Norweger TheViper ist nicht nur in Echtzeitalter der beste AoE2-Spieler der Welt, sondern auch im rl. Menschen, die Dorfbewohner .. äh, „vils“, nie losgeschickt haben, um das Wildschwein zu schlachten und darüber grübelten, ob die Entwicklung des Webstuhls nicht doch eine gute Idee gewesen wäre, dürften bei derlei detailreichen Textpassagen nur mit den Schultern zucken. Alle anderen sind eher verzückt.

Zu welcher Gattung die Jury des Deutschen Buchpreis gehört, ist dabei nicht schwer zu erraten. Zwar hat es mit Echtzeitalter tatsächlich ein Buch mit einem Computerspiel als Inhalt geschafft, Preisträger zu werden. Bei der Begründung dafür, möchte man aber doch irgendwie das rolling-eyes-Emoji zücken. Denn darin „flüchtet sich Till in die Welt des Gaming“, bietet doch genau diese „einen Ort der Fantasie und Freiheit“. Gaming als Eskapismus, wie originell. Insbesondere von Nicht-Spieler:innen haben wir seit über zwanzig Jahren ja kaum etwas anderes vernommen, als dass Spiele Realitätsflucht sind. Zumal diese Begründung ignoriert, dass für Till in Echtzeitalter eben alles eine Flucht ist, nicht nur sein Computerspiel. Seine Freunde, Partys, Aufsicht im IT-Raum, Mädchen, … solange er nur dem Teufel Dolinar fern bleibt. Und Zweites darf man durchaus hinterfragen, ob sich dem Alltag nicht leichter entfliehen ließe, als durch professionelles Computerspielen, das stundenlanges, hartes Training und Disziplin über einen langen Zeitraum erfordert. Und statt wie üblich Eskapismus zu rufen, könnte man das Spielen auch als Katalysator für Tills Charaktereigenschaften wie Ehrgeiz und Disziplin interpretieren, die in seiner Schule gar nicht zum Ausdruck kommen wollen. Und wieviel Fantasie und Freiheit E-Sportler in ihrer Disziplin noch sehen, ist auf jeden Fall auch noch der Klärung wert.

Am Ende bleibt aber dennoch, dass es wohl ein positives Signal ist, wenn ein in Teilen wirklich nerdiges Buch, den bedeutensten Buchpreis im deutschsprachichen Raum bekommt. Und noch viel wichtiger: es ist einfach ein gutes und unterhaltsames Buch, das schonungslos ein gewöhnliches Leben eines Heranwachsenden unter eher nicht so gewöhnlichen Umständen zeichnet. Ein Buch, mit dem jede:r Spaß haben wird, der/die mit realistischer Charakterentwicklung, mit Konfliktsituationen und ja, eben auch mit Computerspielen – insbesondere Age of Empires II – etwas anfangen kann.


Bildquelle: Verlag Rowohlt